Das Gewicht der Worte by Pascal Mercier
Autor:Pascal Mercier [Pascal Mercier]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: #ohnefolie
Herausgeber: Co. KG
veröffentlicht: 2020-02-05T16:00:00+00:00
24
Als Leyland am nächsten Morgen erwachte, wusste er zunächst nicht, wo er war. Es fehlten die schrägen Balken, auf die sein Blick sonst fiel, wenn er in Warren Shawns Haus aufwachte, und es fehlte das fahle Licht eines englischen Herbstmorgens. Er setzte sich auf den Bettrand. Triest. Durch den Türspalt sah er den Esstisch, an dem er gestern abend mit Sidney und Sophia gesessen hatte. Die Erinnerung an seinen Ausbruch kam zurück, und nach einer Weile merkte er, dass es nicht nur die Erinnerung an seine tatsächlichen Worte der Wut auf Leonardi war, sondern auch die Erinnerung an einen Ausbruch im Traum, in dem sein Hass noch größer und wilder gewesen war.
Mit der Kaffeetasse setzte er sich an den Schreibtisch, wo Sidney seine Post hingelegt hatte. Es war der einfache, schwarz lackierte Tisch, an dem er ungezählte Worte zu Papier gebracht hatte. Und es war der Tisch, an dem ihm der Stift und die Worte entglitten waren. Die heißen Julitage, in denen das geschehen war, schienen im einen Moment weit entfernt, und im nächsten Moment waren sie wie gestern. So unbefangen wie früher würde er an diesem Tisch nicht mehr arbeiten können. Oder doch, irgendwann? Er vermisste Warren Shawns Schreibtisch mit all den Stiften, Heftklammern und Geräten in den Schubladen. War es gut, dass der unaufhaltsame Fortgang der Zeit die Bedeutung und Wichtigkeit aller Dinge veränderte, eine Veränderung, die vor allem eine Veränderung in einem selbst war? Und wenn man den Impuls spürte, sich dagegen aufzulehnen: Was war es, was man sich statt dessen wünschte?
Leyland griff nach dem Paket, das er gestern abend nur mit einem kurzen Blick gestreift hatte. Jetzt las er den Absender: Francesca Marchese, dazu die Adresse in Mailand, die er kannte. Ihre sorgfältigen, beinahe kalligraphischen Buchstaben in schwarzer Tinte. Er machte das Paket auf und sah, dass es ein dickes Manuskript war, ein Computerausdruck eingebunden in zwei feste rote Kartondeckel. Generosità war der Titel. Zwischen Deckel und Titelblatt hatte sie einen Brief gesteckt.
Caro Simon, begann er, ich schicke Ihnen hier einen Roman, an dem ich die letzten fünf Jahre gearbeitet habe. Ich weiß nicht, ob ich ihn Caterina Mizzan zur Veröffentlichung anbieten soll. Überhaupt weiß ich nicht, ob ich ihn veröffentlichen will. Sie und Livia haben mich ja damals durch den Wirbelsturm von Verrissen begleitet, in den mein erster Roman geriet. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich mich nicht an Ihnen und Ihrem unbestechlichen Urteil hätte festhalten können. Deshalb möchte ich, bevor ich etwas unternehme, dass Sie diese neue Geschichte lesen und mit mir darüber reden.
Es ist eine erfundene Geschichte, aber sie hat in ihren inneren Dramen viel mit meinem Leben zu tun, und in der langen Zeit, in der ich daran geschrieben habe, hatte ich das Gefühl, mich immer näher an mich selbst heranzuschreiben. Ich bin eine ziemlich reiche Frau, oder eigentlich sollte ich einfach sagen: eine reiche Frau. Mein Großvater Andrea Marchese war der Sohn eines kleinen Schneiders mit einer kleinen Werkstatt. Meistens ging es um Änderungen an Kleidern, um Ausbesserungen, kleine Sachen.
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